Emerald City

In diesem Semester hatte Liam sich endlich für das Patenprogramm freiwillig gemeldet. Vorgenommen hatte er sich das bereits im letzten Jahr. Allerdings war man in der Arktis für seine Mitstudenten so schlecht zu erreichen, weshalb er die Idee für den Moment auf Eis gelegt hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Jetzt wo er zurück in der Uni war stand dem schließlich nichts mehr im Wege. Er hatte in seinem ersten Semester selbst sehr davon profitiert einen Ansprechpartner bei den älteren Studenten zu haben. Es war also in seinen Augen nur richtig sich dafür auch zur Verfügung zu stellen.

Er hatte sich mit seinem Patenkind auf dem Red Square verabredet. Der Broken Obelisk war schwer zu verfehlen und alles war besser als die steife Schwere im Verwaltungsgebäude die ihm für ein erstes kennenlernen viel zu formell und und verkrampft erschien. Er war etwas früher dran und hatte sich mit zwei To Go Bechern Kaffee auf die Stufen neben das Monument gesetzt. Mit geschlossenen Augen ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, während er auf seinen oder seine Kommilitonin wartete.

Mateo trat vorsichtig auf den Platz, die Einschreibeunterlagen ordentlich in seiner Tasche verstaut, das Skateboard diesmal zu Hause gelassen. Die Sonne spiegelte sich auf den nassen Steinplatten, und obwohl der Tag kühl war, lag etwas Beruhigendes in der Luft. Er war nervös – nicht wegen der Uni, sondern wegen dem ersten Treffen. Ein Patenprogramm war eine gute Idee, aber es fühlte sich auch ein wenig an wie ein Blind Date mit dem akademischen Leben.

Sein Blick wanderte über den Red Square, bis er ihn sah: ein junger Mann, entspannt auf den Stufen neben dem Broken Obelisk, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugewandt. Zwei Becher Kaffee standen neben ihm. Mateo zögerte kurz, dann trat er näher. Als sich Mateos Schatten über Liam legte, öffnete dieser langsam die Augen – und blickte direkt in ein strahlendes, offenes Lächeln.

„Bist du Liam?“ fragte Mateo freundlich.
„Ich bin Mateo Alon. Ich glaube, du bist mein Pate.“

Er streckte die Hand aus, nicht steif, sondern mit ruhiger Selbstverständlichkeit. Eine Geste, die Freundlichekeit und Respekt gleichermaßen bedeuten sollte. In seinen Augen lag Neugier – und ein Hauch von Erleichterung.

Liam spürte die Annäherung mehr als das er sie sah. Schritte auf den Pflastersteinen. Der Hauch von Kälte und Dunkelheit als die Sonne nicht länger sein Gesicht erreichte. Blinzelnd öffnete er die Augen. Der junge Mann der ihm gegenüber stand machte auf den ersten Blick sofort einen sympathischen Eindruck auf ihn. Er hatte ein offenes, freundliches Lächeln das irgendwie einnehmend war ohne aufdringlich zu sein.
„Beides richtig.“, antwortete er und ergriff die angebotene Hand. Sein Händedruck war fest aber nicht unangenehm.
„Freut mich dich kennen zu lernen. Komm setz dich.“
Er machte eine einladende Geste und griff dann nach den beiden Kaffeebechern um Mateo Platz zu machen und ihm außerdem direkt einen von beiden anzubieten.
„Trinkst du Kaffee? Wenn nicht trink ich einfach beide.“
So schlecht wie er in letzter Zeit schlief überstieg sein Kaffeekonsum das Gesunde Maß ohnehin schon um Längen. Da machte ein Becher mehr auch keinen Unterschied.
„Erster gut gemeinter Ratschlag: Trink nicht den Kaffee vom Starbucks auf dem Campus. Der ist schrecklich und außerdem viel zu teuer.“
Er lächelte schief als er das sagte. Ein Versuch das Eis ein bisschen zu brechen.
„Ich hoffe deine ersten Tage waren nicht zu stressig. Der ganze Papierkram am Anfang kann einen ein bisschen überfordern.“

Mateo setzte sich dankbar neben Liam, nahm den Becher entgegen und nickte leicht.
„Danke. Den kann ich wirklich brauchen.“
Er wärmte seine Hände daran, ließ den Blick kurz über den Platz schweifen, bevor er sich wieder Liam zuwandte.

„Ich freu mich auch, dich kennenzulernen. Ehrlich gesagt… ich kenn noch nicht viele Leute hier. Die Uni ist ein bisschen überwältigend am Anfang. Groß, laut, irgendwie anders.“

Er lächelte, nicht gehetzt, sondern offen.
„Ich bin erst vor ein paar Tagen in Seattle angekommen. Die Anmeldung war ziemlich intensiv – viel Papier, viele Fragen, und alles auf einmal. Und gleichzeitig muss ich noch eine Wohnung finden.“

Er zuckte leicht mit den Schultern.
„Gerade hab ich ein Zimmer, aber das ist keine Dauerlösung. Bis ich eine Möglichkeit finde, ein bisschen Geld zu verdienen, werde ich was günsitgeres brauchen.“

Er nahm einen Schluck vom Kaffee, verzog kurz das Gesicht – unerwartet, stark, aber gut und willkommen.
„Und danke für den Tipp mit dem Starbucks. Der Kaffee hier ist wirklich um Welten besser. Woher hast du den?“

Ein leises Lachen, dann ein Blick, der sagte: *Ich bin hier und ich bin froh, dass du da bist.*

„Ging mir anfangs genauso. Ich war auf einer relativ kleinen Highschool. Die Uni kam mir gigantisch vor. Kommt sie mir ehrlich gesagt manchmal immer noch.“
Immer noch entdeckte er fast jeden Tag ihm fremde Gesichter oder kam in Räume die er noch nie zuvor betreten hatte.
„Wenn du jetzt oder zukünftig Hilfe mit dem Papierkram brauchst, dann schaue ich mir das gerne mit dir zusammen an.“
Das war eine der Hauptaufgaben des Patenprogramms. Die neuen Studenten dabei zu unterstützen sich mit den Abläufen und Formalismen der Universität vertraut zu machen und ihnen außerdem den sozialen Anschluss zu erleichtern. Deswegen war es auch nicht unüblich, dass Pate und Patenkind nicht derselben Fakultät angehörten. Für fachliche Hilfe gab es andere uniinterne Anlaufstellen.
„Was studierst du denn?“, erkundigte er sich und nippte an seinem Becher.
„Ich studiere Meeresbiologie und Naturschutz.“
Tippte dann mit dem Zeigefinger auf den Pappdeckel.
„Vom Husky Grind Cafe. Das ist in der Alder Hall. Wir können da nachher mal vorbeigehen, wenn du magst. Ich brauche heute sich noch nen zweiten Becher.“
Und tatsächlich machte Liam bei genauerem Hinsehen einen leicht übernächtigten Eindruck.
Er deutete den Campus Parkway nach Westen entlang, grob in Richtung Alder Hall.
„Hast du dich schon um ein Zimmer hier auf dem Campus bemüht? Die sind recht erschwinglich im Vergleich, allerdings deswegen leider auch ziemlich schnell belegt. Ansonsten kannst du mal einen Blick ans Schwarze Brett im HUB werfen. Da werden manchmal freie WG-Zimmer und Jobangebote ausgehängt.“

Mateo lächelte dankbar und nickte leicht.
„Danke dir, wirklich. Auf das Angebot mit dem Papierkram komme ich bestimmt zurück. Ich hab mich gerade erst eingeschrieben und ehrlich gesagt… ich bin noch ziemlich orientierungslos.“

Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der inzwischen angenehm warm war, und sah Liam offen an.
„Ich studiere Theologie und religiöse Studien. Aber Meeresbiologie und Naturschutz hört sich superinteressant an.“

Sein Blick folgte Liams Fingerzeig in Richtung Alder Hall.
„Husky Grind Café klingt gut. Ich geh da gern mit dir vorbei – vielleicht finde ich es dann auch wieder. Ich hab mich noch nicht wirklich um ein Zimmer bemüht… und das Schwarze Brett hab ich ehrlich gesagt noch gar nicht gesehen. Ich weiß nicht mal, wo das ist.“

Er zuckte leicht mit den Schultern.
„Ich bin ein bisschen spät dran mit allem. Die Anmeldung war schon ein kleiner Marathon. Und ich weiß auch nicht, wo ich mich da am besten informieren kann. Vielleicht kannst du mir das später zeigen?“

Dann sah er Liam etwas genauer an. Die Schatten unter den Augen, das zweite Kaffeeversprechen, der leicht angespannte Blick.
„Hast du schlecht geschlafen? Wenn’s dir heute nicht so gut geht, ist es auch kein Problem, das Treffen zu verschieben. Ich will dich nicht überfordern.“

Theologie also… Die Antwort hinterließ einen Kratzer auf dem bisher positiven ersten Eindruck den er von Mateo gewonnen hatte. In Liam weckte das aus zahlreichen Gründen gewisse Vorbehalte, auch wenn ihm vollkommen klar war, dass er nichts davon Mateo persönlich zum Vorwurf machen konnte und es in gewisser Weise ihm gegenüber unfair war. Aber er konnte da schwer aus seiner Haut. Trotzdem bemühte er sich diesen Anflug von Unbehagen zur Seite zu schieben.
Er ließ das Thema ganz bewusst links liegen und kehrte zu allgemeineren organisatorischen Dingen zurück.
„Na klar. Dafür bin ich ja hier. Hast du dein Profil auf der Uniwebseite schon ausgefüllt? Dort sollten dir dann Informationen über Wohnangebote auf dem Campus die für dich in Frage kommen angezeigt werden. Da kannst du dich dann auch direkt bewerben.“
Er stellte den Kaffeebecher neben sich auf die Treppe und zog das Handy aus der Tasche um Mateo die entsprechenden Sektionen zu zeigen. Dabei brauchte er einen Moment um die richtigen Fenster und Buttons im Menü zu finden und kam sich dabei vor wie ein Anfänger.
„Neues Handy. Ich hab mich irgendwie noch nicht dran gewöhnt.“, erklärte er mit einem schiefen Lächeln.
Neues gebrauchtes Handy wenn man es genau nahm. Aber nachdem sein letztes Handy den Zusammenstoß mit den drei Homohassern nicht überlebt hatte und sein Budget wie üblich überschaubar war, hatte er keine allzu großen Sprünge bei einem Ersatz machen können. Eigentlich wars ihm auch nicht so wichtig. Es tat schließlich was es sollte. Nur sich bei der Bedienung umgewöhnen zu müssen, das empfand er irgendwie als frustrierend. Da war er einfach zu sehr creature of habbit. Natürlich hatte er auch diesem Gerät sofort eine Schutzhülle im Regenbogendesign verpasst. Den Triumph gönnte er diesen Menschen erst recht nicht.
Schließlich schüttelte er den Kopf.
„Nein, alles gut. Ich bin einfach ein bisschen im Stress aktuell. Daran wird sich vermutlich die nächste Zeit nichts ändern, also lohnt es sich auch nicht darauf zu warten.“
Das war die unpräzisestes Umschreibung für: Ich habe ganz miese Albträume, die er finden konnte.

Mateo nickte langsam, während er auf das Display schaute, das Liam ihm zeigte.
„Ich schau mir das dann nochmal in Ruhe an. Vielleicht gibt’s ja doch ein Angebot, das für mich passt.“

Er lächelte leicht, als Liam mit dem Handy kämpfte.
„Neues Handy ist immer blöd. Vor allem, wenn’s ein anderes Betriebssystem ist. Ich versteh nicht, warum die Dinger nicht einfach alle gleich funktionieren können. Als wär’s Absicht, dass man sich jedes Mal neu einarbeiten muss.“

Sein Blick fiel auf die Hülle.
„Die ist übrigens echt cool. Macht sie das Gerät gleich persönlicher.“

Als Liam den Stress erwähnte, wurde Mateos Blick etwas weicher.
„Wenn ich irgendwie helfen kann, sag einfach Bescheid. Oder wenn du mal drüber reden willst – ich bin eigentlich ein ziemlich guter Zuhörer. Kein Druck, aber das Angebot steht. Wenn nicht, ist auch nicht schlimm. Wir kennen uns ja noch nicht lange. Wobei es manchmal einfacher ist, mit jemandem zu sprechen, wenn man sich nich nicht so lange kennt.“

Er ließ eine kleine Pause entstehen, bevor er sich leicht zur Seite drehte, den Becher zwischen den Händen.
„Darf ich dich was fragen?“

Sein Ton war ruhig, vorsichtig, aber ehrlich.
„Hast du ein Problem damit, dass ich Theologie studiere?“

Er sah Liam offen an. Nicht fordernd. Nicht verletzt. Nur neugierig und vielleicht auch ein wenig... unsicher.

Liam kam nicht umhin sich ertappt zu fühlen. Offenbar hatte er sein inneres Zusammenzucken nicht wirklich verbergen können. Kein Wunder. Darin Leuten etwas vorzumachen war er noch nie besonders begabt gewesen.
Er schwieg einen Moment auf der Suche nach den passenden Worten, entschied sich letztendlich aber doch für einen direkten Umgang damit. Das Thema stand jetzt im Raum. Und es würde den Raum auch nicht einfach so wieder verlassen nur weil er es dazu aufforderte.
„Es stimmt, dass dieses Thema bei mir schlechte Erfahrungen berührt. Allerdings wars nicht meine Absicht dir deswegen ein schlechtes Gefühl zu vermitteln. Falls ich den Eindruck gemacht habe tut es mir leid.“
Das tat es wirklich. Es fiel ihm nicht schwer sich in Mateos Lage zu versetzen. Ihn hätte diese Situation sicher auch verunsichert.

~ Du lügst echt schlechter als der Pabst persönlich. ~
Lontra die neben ihm auf dem Rand des Monumentes saß und die Beine baumeln ließ konnte sich wie üblich einen Kommentar zum Thema nicht verkneifen.
~ Ich für meinen Teil glaube ja, dass der Pabst ein ziemlich guter Lügner ist. ~

Mateo hörte aufmerksam zu, sein Blick ruhig, offen. Er spürte, dass Liam sich bemühte, ehrlich zu sein – und das reichte ihm.

„Es tut mir leid, dass du schlechte Erfahrungen gemacht hast,“ sagte er leise, aber bestimmt. „War das mit Theologiestudenten? Oder mit Christen allgemein?“

Er sprach nicht aus Verteidigung, sondern aus echtem Interesse und auch aus Neugier. Nicht jeder, der sich mit Religion beschäftigt, tut das aus denselben Gründen. Und nicht jeder, der glaubt, handelt gemäß des Glaubens.

Nach einem kurzen Moment fügte er hinzu: „Hat das mit deiner Herkunft zu tun? Ich meine… deiner indigenen Herkunft?“

Er zögerte kurz, dann fragte behutsam: „Darf ich fragen, zu welchem Stamm du gehörst?“

Mateos Ton war respektvoll, nicht neugierig im Sinne von Neugierde, sondern im Sinne von Verstehenwollen.