Emerald City

Es waren einige Tage seit dem Treffen mit Shen vergangen. Masamune war froh, dass Reiko weiterhin zum Unterricht kam. Für heute war nach dem Training eine weitere Privatstunde angesetzt.

Masamune schien schon beim Training angespannter als sonst. Etwas beschäftigte ihn. Dieser Eindruck verstärkte sich, als der letzte Schüler gegangen war und er die Türe schloss. Abschloss. Eine seltene Geste, auch, wenn der Schlüssel am Ende noch in der Türe steckte und somit Niemand wirklich eingesperrt war: Die Welt draußen war ausgesperrt.

Statt mit ihr zur Matte zu gehen, bat er sie zu dem japanischen Tisch, holte Tee und Wasser und begann mit der Zubereitung. Wollte er den Unterricht heute mit einem philosophischen Gespräch beginnen?

Worte wurden wenig gesprochen - nur das Notwendigste. Als der Tee zubereitet und die Tasse zu ihr geschoben war, brach Masamune endlich die Stille.

"Ich habe einen Entschluss gefasst und ich weiß nicht, ob dieser der Richtige ist. Was ich sagen werde ist etwas, was dein Leben tiefgreifend verändern wird. Vielleicht wirst du mich für verrückt halten. Vielleicht wirst du mich dafür hassen, dass ich es dir sage. Aber du verdienst die Wahrheit zu erfahren."

Eine Pause folgte.

"Reiko-San. Was weist du wirklich über Shen?"

Reiko war weiterhin regelmäßig zum Training erschienen und das war auch an diesem Abend keine Ausnahme. Sie schien zwar etwas irritiert, als er mit der Zubereitung des Tees begann, lies sich aber wie angewiesen an dem Tisch nieder und wartete geduldig darauf, dass ihr Sensei wieder das Wort an sie wendete.

Sie umschloss die Tasse mit beiden Händen, stockte dann aber, als er das Gespräch begann. Die Verwirrung auf ihrem Gesicht wandelte sich zu einem fragenden Stirnrunzeln und erhobenen Augenbrauen wieder zurück zu absoluter Verwirrung.

"Was...ich...über ihn weiß?" sie blinzelte. "Ich...würde sagen...viel...er ist mein Zwillingsbruder. Was...hat das alles mit...einer Wahrheit zu tun...ich verstehe nicht...?" sie schüttelte den Kopf. "Er ist brutal, er ist arrogant, er ist mächtig und...er ist...nunja...das Oberhaupt unserer Familie, nachdem unsere Eltern starben. Ich..." sie seufzte. "Was soll das hier?"

Masamune nickte. Ihre Reaktion bestätigte, was er von Shen schon wusste: Sie war ahnungslos. Doch wie erklärte man die einfache Wahrheit in dieser Welt, wenn man sie selbst noch nicht begriffen hatte?

"Ich hatte nie vor dir davon zu erzählen. Manche Dinge sollten einfach im Dunkeln bleiben. Ich wollte dich tatsächlich schützen... dich in Jui Jitsu ausbilden. Aber... dann traf ich auf deinen Bruder und mir wurde klar, dass ich dich vor dieser Welt nicht beschützen kann."

Er trank selbst einen Schluck Tee.

"Ich... bin in der Lage Dinge zu fühlen und zu sehen, die dem Auge verborgen bleiben. Also ich deinen Bruder traf, ahnte ich so etwas... dann vergewisserte ich mich der Tatsache. Was ich da wahrnahm... war der Grund warum ich alleine mit ihm sprechen wollte. Er sagte mir, dass du Unwissend seist... doch, wenn er dich nicht aufklärt, ist es meine Pflicht als dein Sensai."

Er schaute zu dem Bild von seinem Vater. Zögernd. Wissend, dass das Folgende verstörend sein würde. Er holte tief Luft.

"Dein Bruder ist ein Werwesen... daher rührt seine... Aura der Arroganz, Herrschaft... daher rührt seine Wut... seine Kraft... Ich weiß nicht, ob er ein Wolf ist... aber andere Werwölfe in Seattle meiden sein Lokal. Und der Grund, warum ich das weiß... warum ich es... sehen konnte... ist der, dass ich in der Lage bin... Magie zu kanalisieren, wie Ki. Ich bin vor mehr als einem Jahr... erwacht, wie wir sagen."