Seite 1 von 1

Erinnerungen, die niemand braucht

Verfasst: Mi 29. Okt 2025, 04:56
von H.-H. Skolem
Es ist einiges geschehen in den letzten Tagen. Skolem hatte viele neue Menschen getroffen. Manche davon schloss er sofort in sein Herz, andere musste er noch besser kennenlernen. Wieder andere wirkten recht fremd auf ihn. Und doch hatten sie alle etwas Liebenswertes an sich. Was heißt hier „und doch“? Jeder Mensch hat etwas, was ihn liebenswert macht. Davon ist Skolem stets felsenfest überzeugt gewesen und ist es auch heute noch. Er glaubte noch nie an das Gute an sich, aber er glaubte stets an das Gute im Menschen. An Menschlichkeit, Humanitas und die Menschheit als solche.

Wie sagte Goethe doch einst so schön? „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Und genau nach diesem Leitbild versuchte er zu leben. Versuchte, jedem Menschen, den er traf, eine Stütze zu sein, eine Hand zu reichen und vorurteilsfrei zu begegnen. Meist klappte dies auch ganz gut. Denn die Menschen waren tatsächlich an sich gut. Bisher musste er zum Glück nur selten Situationen erleben, die das Gegenteil offenbarten. Doch wenn dies dann doch geschah, dann ging es meist richtig schief. So wie damals, als …

Reflexartig schiebt er diese Gedanken von sich fort, greift stattdessen in die unterste Schublade seines Schreibtischs im Büro des Bestattungshauses. Und wieder nimmt er einen großen Schluck direkt aus der grünen Flasche, die sich neben anderen befand - selbstverständlich nicht ohne sein bewährtes Ritual.

In diesem Moment tapst Nepomuk, der kleine, grau-getigerte Kater, ins Zimmer und springt auf den Schreibtisch. „Mau, mau-mau“ macht er nur und weiß genau, dass Skolem ihm ein Leckerchen kredenzen wird. Genau das tut er auch. Er öffnet eine weitere Schublade und holt eines dieser Katzenleckerlis heraus, eine dieser Stangen, die er dann in kleinere Teile zerrupft und sie Nepomuk nacheinander zu naschen gibt.

„Lass es dir schmecken, mein Kleiner. Ich mach das auch“ grinst Skolem und nimmt einen weiteren tiefen Schluck. Während Nepomuk sich noch über sein Leckerli hermacht, lehnt er sich in seinem Bürostuhl zurück und schließt für einen Moment die Augen.

Doch just in diesem Augenblick bricht es über ihn herein, genau in diesem Moment tauchen die Bilder wieder auf: Die Nacht, der Park, die Schreie. Dann diese widerlichen Männer. Das Mädchen. Und er rennt. Rennt, so schnell ihn seine Beine tragen. Rennt, als ginge es um sein eigenes Leben. Rennt, denn er weiß genau, dass jetzt alles an ihm hängt. Derweil die Rufe: „Kommt doch, ihr Ömmel.“ Und: „Was fällt euch ein, ihr Deppen?“

Doch er rennt weiter, in einem großen Bogen – denn genau so hatten es die beiden zuvor abgesprochen. Die Männer wenden sich ab, folgen den Rufen. Und Skolem ergreift eine Hand, sieht in tränenerfüllte Augen. Dann rennt er los, zerrt die Hand und das Mädchen, dem sie gehört, mit sich mit. Rennt, als gäbe es kein Morgen mehr …

Und dann gab es wirklich kein Morgen mehr …

Skolem kneift die Augen zusammen und ein halbstummer Schrei entfährt seiner Kehle. Er kippt mit vollem Elan den Inhalt der Jameson-Flasche in sein Glas, stürzt den Whiskey hinunter und dreht dann das Glas, als es quasi leer ist, noch einmal um. Ein letzter Tropfen fällt auf den Boden vor ihm - und wieder haucht er die Worte:
"Ich trink auf dich mein Freund
Auf jeden Tag aus unserer Zeit
Auf das was geht und das was bleibt.
Ich trink auf dich mein Freund
Ich heb auf dich mein Glas
Auf das was kommt und das was war."

Und wieder einmal hört er nur seine eigene Stimme in seinem Kopf, die ihm sagt: "Du hast versagt. Du bist nutzlos. Du bist Müll."
Und wieder einmal denkt er sich, dass er jeden Schmerz dieser Welt verdient hat.