Die Sonne hatte den Horizont noch nicht ganz überschritten, als Liam leise die Terassentür hinter sich zuzog und in den Garten hinaustrat. Barfuß überquerte er den Rasen und ließ sich auf einen der alten Baumstämme sinken, die sich um die kleine Feuerstelle gruppierten. 5:30 Uhr. Eine viel zu kurze Nacht. Wieder einmal.
Im dämmrigen Zwielicht konnte er das Bild auf der Tarotkarte gerade so erahnen. Er hatte ihr bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Randnotiz die sich zwischen drängenderen Aufgaben verloren hatte. Erst seit er die Identität seiner Café-Bekanntschaft kannte, er wusste, dass sie Johns Mentorin war, hatte sie wieder an Bedeutung gewonnen. Trotzdem hatte er sich zu lange nicht die Zeit genommen sich mit ihren Worten auseinanderzusetzen. Doch je mehr er über den Konflikt mit den Garou erfuhr umso heißer brannte ihm eine Frage auf den Lippen. Heiß genug, dass er die ganze Sache nicht länger aufschieben konnte oder wollte.
"Das was Anastasia gesagt hat. Dass ich mit der Karte alles hätte was ich bräuchte um sie zu kontaktieren. Was denkst du, hat sie damit gemeint?"
Lontra kletterte neben ihm auf den Baumstamm und betrachtete die Karte mit schräg gelegtem Kopf.
"Hm...ich wette es ist irgendwas Magisches da dran. Hast du nicht auch was gespürt, als du sie in die Hand genommen hast?"
Der Blick ihrer dunklen Knopfaugen richtete sich fragend auf sein Gesicht.
Er nickte.
"Eine Art Kribbeln in den Fingerspitzen. In dem Moment habe ich mir nichts dabei gedacht."
Das Gespräch hatte ihn ehrlicherweise ziemlich überfordert. Auch wenn er reichlich Zeit gehabt hatte sich damit abzufinden, dass sich etwas in seinem Leben, daran wie er die Welt wahrnahmen, verändert hatte, war ihm die Tragweite dieser Veränderung lange nicht klar gewesen. Zur Gänze war sie das bis heute nicht.
"Ja natürlich hast du das nicht. Du warst viel zu sehr damit beschäftigt dich mit deiner neuen Wirklichkeit auseinander zu setzen. Ich wette sie hat was in die Karte gespeichert… wie...wie einen Köder für einen Fisch oder so!"
Eine Analogie die Liam nicht besonders gut gefiel, auch wenn er anerkennen musste, dass sie vermutlich zutraf. Er verstand Anastasias Heimlichtuerei nicht, aber er musste mit dem arbeiten was er hatte. Er bemühte sich sehr nicht darüber verärgert zu sein. Vielleicht hatte sie gute Gründe für ihr Handeln. Trotzdem machte es den weniger vernünftigen, weniger reflektierten Liam wütend. Ihm war klar, dass diese Gefühle aus Frustration und Überforderungen geboren waren. Aber sie zu verstehen alleine genügte nicht um sie vollkommen abzuschütteln.
"Gehen wir davon aus ich möchte den Köder schlucken. Was muss ich tun um das was sie in der Karte verankert hat sichtbar zu machen?"
Er musste seine Gedanken deutlich ermahnen zum Wesentlichen zurückzukehren. Ärger würde ihm nicht dabei helfen dieses Rätsel zu lösen. Er brauchte einen klaren Kopf.
"Hmm..."
Lontra strich sich über das kleine Kinn. Ließ dabei die Tasthaare durch ihre Finger gleiten.
"Also....du könntest es mal damit versuchen...erinnerst du dich wie das Meer aussah, als ich aufgewacht bin?!“
Er nickte. Diesen einen Tauchgang konnte er unmöglich vergessen.
"Ich konnte die Strömung sehen."
Die Karte in der Hand schloss er für einen Moment die Augen um sich die Situation ins Gedächtnis zu rufen. Das was er getan, wahrgenommen und gefühlt hatte.
"Duu hast gar nichts getan! Das war ich!"
Das war so typisch Lontra dass es ihn zum Schmunzeln brachte. Sie war wirklich nie darum verlegen ihre eigene Großartigkeit zu unterstreichen.
"Es wird Zeit das du anfängst zu merken das du ein Magus bist, dessen Qualitäten über das Sehen von Leuchtewalen und Gespräche mit der mächtigen Ottermagierin hinaus gehen!".
"Ich dachte wir sind ein und dieselbe Person.", konnte er sich einen freundlichen Seitenhieb nicht verkneifen. Dann atmete er einmal tief durch.
"Okay, mächtige Ottermagierin, dann erleuchte diesen ahnungslosen Menschen."
Sie sah zu ihm hoch und musterte ihn mit kritischem Blick. Und Liam wurde nicht müde erstaunt darüber zu sein wie ausdrucksvoll ihr Gesicht war, obwohl es wenig Menschliches an sich hatte.
"Es ist doch hell. Brauchst du mehr Licht?", setzte sie nach. Natürlich konnte sie das nicht so stehen lassen. Dann legte sich ein schulmeisterlicher Ausdruck auf ihre Züge, sie kreuzte die Hände hinter dem Rücken und begann auf dem Baumstamm langsam auf und ab zu schreiten wie eine Professorin die ihren Studenten einen Vortrag in Algebra eins präsentierte. Wohlwissend, dass sie es mit einem Hörsaal voller Mathematikversager zu tun hatte.
"Also...du musst überlegen...wie du deine Magie kanalisierst. Dann kannst du mit verschiedenen Sphären herumprobieren...welche bei der Karte was anzeigt...oh Ahnungsloser Mensch."
Dann brach ihre salbungsvolle Fassade und sie quiekte belustigt ob ihres eigenen Schauspiels und seiner Bereitwilligkeit es mitzuspielen.
Wie du deine Magie kanalisierst… Sie sprach davon mit einer Leichtigkeit der er so ganz und gar nicht folgen konnte. Als müsse er nur die richtige Schublade aufziehen um die Gebrauchsanleitung darin zu finden. Aber Magie war etwas für Schamanen. Für Leute mit einer besonderen Gabe. Für einen Harry Houdini. Für Robe tragende Otterzauberinnen. Nichts für Meeresbiologiestudenten mit zu hohem Kaffeekonsum.
Du bist jetzt eine Robe tragende Otterauberin Liam..., insistierte eine innere Stimme spöttisch. Ein Anflug von selbstverletzendem Sarkasmus, der, so voller Vitriol er auch gewesen sein mochte, einen Gedanken in ihm anstieß. Lontra war eine Art spiritueller Führer für ihn. Ein Teil seiner Seele älter als er selbst, der über mehr Wissen verfügte als der kurzlebige Liam-Teil der gerade einmal zwanzig Jahre alt war. Vielleicht konnte er andere Geister um Hilfe bitten um ihn bei seiner Suche nach Einsichten zu unterstützen. Etwas das die Schamanen seines Stammes seit Jahrhunderten taten. Er war vielleicht kein Schamane. Aber er war immer noch ein Duwamish. Vielleicht würden die Geister die seinen Stamm führten trotzdem bereit sein ihn zu unterstützen.
„ʔəskiis ti yəl̕yəlabčəɬ ʔal ti qadbidčəɬ, qʷibyitubuɬ ʔə kʷi šəgʷɬ.", murmelte er schließlich und zog das Taschenmesser aus der Gürtelscheide. Er klappte es auf und brachte sich einen Schnitt am kleinen Finger bei. Ließ einen Tropfen Blut vor sich zu Boden fallen, bevor er sich mit dem Finger an der Stirn und auf Höhe des Herzens berührte.
"Sɬukʷalb, gʷəkʷaxʷac."
(Unsere Vorfahren stehen hinter uns und bereiten den Weg vor uns. Mond, großer Verwandler, bitte führe mich.)
Der Mond hatte die Welt gewandelt um sie zu einem lebenswerten Ort für seine Kinder zu machen. Wenn Jemand ihm helfen konnte die Essenz, den Ursprung, der Magie zu verstehen, dann der große Geist dessen Wille allein genügte um die Welt zu verändern.
Und tatsächlich konnte er einen Anflug von Wärme in seinen Fingerspitzen spüren. Für einen Moment schloss er die Augen um den Eindruck in sich aufzunehmen. Und als er sie wieder öffnete glühte die Karte in einem fahlen silberweißen Schein. Ein warmes, aber irgendwie geisterhaftes Licht, das keine Schatten erzeugte und keine Glanzlichter warf. Etwas haftete an ihr. Ein Hauch von Energie, nicht übermäßig stark, aber für ihn jetzt deutlich wahrzunehmen. Ein Gefühl von… Schalk. Von Geheimnissen. Und einer tieferen Verbundenheit mit etwas… anderem. Etwas das sich ihm irgendwie entzog. Als betrachte er es nicht im richtigen Winkel oder durch die richtigen Augen.
"Okay... ich kann die Energie spüren, aber nicht richtig greifen. Bitte sag mir ob meine Schlussfolgerung richtig ist. Ich muss auf eine andere Art und Weise an die Sache herangehen. Irgendwie.... spezifischer. Sie sagte ich hätte eine Affinität zur Welt der Kräfte und Geister. Ähnlich wie sie. Das bedeutet eine dieser beiden Sphären... „, wand er sich schließlich an Lontra als der Glanz der die Karte umgab langsam zu verblassen begann. Das Wort Sphäre klang wie eine Frage.
„… könnte mir helfen deutlicher zu sehen was sie in der Karte verankert hat."
Sie rieb sich über die Schnauze und nickte dann bestätigend.
"Ja...also....es sieht so aus, als hätte sie was in die Karte gebunden....irgendwie...dafür...Quintessenz benutzt....und...jaaa...."
Dann kratzte sie sich nachdenklich am Kinn, als überlege sie wie sie ihre Weisheit am besten in so einfache Worte kleidete, dass auch ein Meeresbiologiestudent ihnen folgen konnte.
"Also… die Sphären…“
Mit einem Nicken ließ sie ihn wissen, dass er den richtigen Begriff verwendet hatte.
„… sind das was sie eigentlich reingepackt hat und die Quintessenz, die du gesehen hast ist der Kleber...oder...hm...das was den Effekt verankert..."
Er dacht einen Moment über ihre Worte nach. Und über das was Anastasia gesagt hatte. Kräfte und Geister…
Letztendlich entschied er instinktiv. Und weil er wusste welchen Geist er für einen Blick in die Geisterwelt um Hilfe bitten konnte. Seine Mutter hatte ihm die Geschichte als Kind sehr gerne erzählt. Von Fasan und seinem Weg ins Totenreich. Davon, dass Fasans Tochter auf einem Auge blind zur Welt kam und mit den Geistern sprechen konnte.
Wieder ließ er einen Tropfen Blut zu Boden fallen. Verband seine Bitte mit einer kleinen Opfergabe. Schließlich rief man nicht einfach die Geister um Hilfe an ohne ihnen etwas dafür zurückzugeben. Der Beistand eines Geistes war ein sehr wertvolles Geschenk das einem weder Zustand und dass man auch nicht einfach einfordern konnte.
Diesmal berührte er sein linkes Augenlid und sein Herz und bat Fasan darum ihm sehen zu helfen. Anders als beim ersten Mal verspürte er eine deutliche Anstrengung dabei. Als müsse er gegen einen Sturm anschreien der ihm die Worte mit Gewalt von den Lippen riss. Sie irgendwo ins Nichts hinforttrug um ihn für einen bangen Moment mit einem Gefühl der Verlassenheit zurückzulassen, bevor ein kühler Hauch wie ein Flügelschlag sein Gesicht streifte. Als er die Augen öffnete konnte er zwei grün leuchtende Punkte erkennen. Erst nur Stecknadelkopfgroß wuchsen sie schnell heran und bildeten die Augen einer ätherischen Erscheinung. Der halb durchsichtige bepelzte Kopf eines Kojoten blickte ihm aus der Karte entgegen und Liam konnte gerade noch so eben den Reflex unterdrücken sie überrascht fallen zu lassen. Er hatte keine Ahnung womit er gerechnet hatte. Das hier… das hier war es jedenfalls nicht gewesen.
"Sieh an, wer die Augen geöffnet hat.", begrüßte das Wesen ihn mit einer Stimme der ein geisterhafter Nachhall folgte.
Liam schwieg perplex. Erst als Lontra ihm mahnend in die Rippen knuffte setzte sein Verstand sich wieder in Bewegung und er räusperte sich verlegen. Leise murmelte er einen Dank an Fasan, bevor er sich in respektvollem Ton an den Kojotengeist wand:
"Ich... Entschuldige bitte falls ich dich störe. Ich würde gerne mit Anastasia sprechen."
Die Erscheinung zog die Lefzen zu einem grinsenden Ausdruck zurück und brach in belustigtes Kichern aus, bevor sie melodisch reimend folgende Zeilen vor Liam ausbreitete:
In einer Nacht, so hell und rund,
steht silbern leuchtend hoch der Mond.
Wo Tannen flüstern leis im Wind,
ein Ort, den nur Eingeweihte find'.
Ein Haus aus Licht, Musik und Klang,
wo Karten tanzen, Spiel beginnt.
Dort lockt das Glück mit sanftem Drang —
doch nur, wer weiß, wo Wege sind.
Ein Tisch, der erste, still und klar,
liegt dort verborgen, wunderbar.
Die Chips gestapelt, rot und blau —
wer kommt, erkennt den alten Brauch.
Nun rate, Fremder, such den Sinn:
Wo flackert Hoffnung, Spiel gewinnt?
Ein Treff im Glanz der Nacht gescheh’n —
wer’s findet, darf die Wahrheit seh’n.
Dann verblasste sie langsam und ließ Liam mit einem Rätsel und einem bunten Blumenstrauß unterschiedlichster Gefühle zurück. Verwirrung und Überraschung. Aber auch Dankbarkeit und einem Eindruck von Erleichterung. Er hatte sich nicht aus der Realität gelöscht.
Das Herz der Karte(n) [Liam]
- Liam Carpenter
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