Der Junge, der für die Götter tanzte

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Mateo
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Registriert: So 31. Aug 2025, 14:42

Der Junge, der für die Götter tanzte

Beitrag von Mateo »

Die Sonne war bereits hinter den Hügeln verschwunden, aber ihr letzter Schein lag noch wie ein goldener Schleier über den Baumwipfeln. Mateo hatte sich einen abgelegenen Ort gesucht – eine kleine Lichtung am Rand der Stadt, verborgen zwischen alten Bäumen, deren Wurzeln sich wie Finger in die Erde krallten, wo das Gras hoch stand und die Geräusche der Welt leiser wurden. Hier war es still. Nicht leer, sondern voller Atem.

Er stand barfuß im Gras, die Erde kühl unter seinen Sohlen. Die Luft roch nach Harz und feuchtem Laub. Er trug die Kleidung seiner Herkunft: das gewebte Tapis, die roten und schwarzen Muster, die Geschichten erzählten, die älter waren als jedes Buch. Seine Stirn war mit einem schlichten Band umwunden, das einst seinem Großvater gehört hatte. Sein Oberkörper war frei. Es war kein Kostüm. Es war Erinnerung.

Langsam hob er einen Fuß.
Der andere blieb am Boden, leicht federnd, als würde er den Takt spüren – einen Takt, den niemand hören konnte.
Er hüpfte, kaum merklich, in einem Rhythmus, der nicht von außen kam.

Dann spreizte er die Arme.
Nicht wie ein Tänzer, sondern wie ein Vogel – wie die Adler seiner Heimat, die sich vom Wind tragen ließen, ohne ihn zu fürchten.

Der Tanz begann.
Nicht für ein Publikum. Nicht für ein Ritual. Für die Verbindung. Für das Erinnern.

Sein Körper bewegte sich langsam, dann schneller, dann wieder still.
Die Bewegungen waren fließend, wie Wasser, das sich an Steinen vorbeischlängelt.
Er drehte sich, beugte sich, sprang – nicht hoch, sondern tief.
In die Erde hinein.

Es war meditativ.
Ein Gebet ohne Worte.
Ein Ruf ohne Stimme.

Und dann veränderte sich etwas.
Nicht draußen – *in ihm*.

Die Welt wurde weich.
Die Geräusche verschwanden.
Die Luft wurde dichter, voller Bedeutung.

Er fiel in eine Trance.
Nicht wie Schlaf, sondern wie Erinnerung.

Er sah nichts – und doch war alles da.
Die Reisterrassen, die Stimmen der Alten, das Knistern von Feuerholz.
Er war nicht allein.

Die Geister seiner Ahnen waren da.
Nicht sichtbar, aber spürbar.
Sie standen um ihn, in einem Kreis, der sich nicht schloss, sondern öffnete.

Die Geister der Natur kamen hinzu – der Wind, das Wasser, die Wurzeln unter seinen Füßen.
Und dann: die Götter seiner Vorfahren.
Nicht als Gestalten, sondern als Präsenz.
Als Licht, das durch die Blätter brach.

Und dann, am Rand der Lichtung, stand der Avatar. Nicht als Lichtgestalt, sondern als einfacher Junge. Barfuß, mit dunklem Haar, die Kleidung wie aus einem anderen Leben. Die Flügel nicht statisch, sondern lebendig: sie formen sich aus Licht und Klang, aus Bewegung und Gebet.

Er sagte nichts. Er war einfach da.

Mateo hörte das Lied.
Nicht mit den Ohren.
Mit dem Herzen.

Es war das Lied des Einen.
Das Lied, das durch alles floss.
Es gab ihm Takt.
Es gab ihm Musik.
Es gab ihm Richtung.

Mateo tanzte weiter.
Nicht für sich.
Nicht für den Avatar.
Sondern für das, was ihn trug. Für das, was ihn erinnerte. Für das, was ihn rief. Er tanzte weiter.
Nicht schneller. Nicht lauter. Aber tiefer.

Und in diesem Moment war er nicht in Seattle.
Nicht auf einer Lichtung.
Nicht allein.

Er war Teil von etwas Größerem.
Ein Junge, der für die Götter tanzte.
Und die Welt hielt den Atem an.

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