Endloses Blau [Liam]

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Liam Carpenter
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Registriert: Fr 14. Mär 2025, 19:48

Endloses Blau [Liam]

Beitrag von Liam Carpenter »

Er kontrollierte ein letztes Mal seine Ausrüstung. Atemregler. Tauchcomputer. Druckanzeige. Batterie… Check. Ein Griff zum Messer um sicher zu gehen, dass er es dabeihatte. Es war ein Routinetauchgang. Aber bei einer Wassertemperatur um den Gefrierpunkt konnte auch aus Routine schnell bitterer Ernst werden. Ein unachtsamer Taucher war schnell ein toter Taucher. Insbesondere hier draußen.
~ Fühl dich nie zu sicher Liam. Nimm niemals an das deine Ausrüstung in Ordnung ist. Prüfe sie jedes einzelne Mal. Egal ob du sie vor einer Woche oder vor einer Stunde das letzte Mal benutzt hast. ~
Er hatte diese Vorsicht verinnerlicht wie ein Mantra. Daniel sein Signalmann stand hinter ihm und hakte die Leine in seinen Gürtel ein. Zog einmal prüfend daran um sicher zu gehen, dass der Karabiner sich richtig geschlossen hatte.

„Wenn du soweit bist kanns losgehen Liam.“
„Ich bin fertig.“

Er stieg die Leiter hinab und ließ sich ins Wasser gleiten. Ein letztes Mal wanderte sein Blick über Tauchcomputer und Druckanzeige. Dann griff er nach dem Atemregler, signalisierte Daniel mit einem Daumen nach oben das er bereit war und begann den Abstieg. Fast augenblicklich umfing ihn das vertraute Gefühl der Schwerelosigkeit als die Wasseroberfläche langsam über ihm zurückblieb und er der blauen Dunkelheit entgegenschwamm. Er liebte diesen Eindruck von Leichtigkeit. Von Freiheit. Wie eine Zwischenexistenz. Nicht ganz fliegend aber auch nicht mehr vollkommen an die Gesetze der Schwerkraft gebunden.
Die Aufgabe war für einen geübten Taucher keine allzu große Herausforderung. Abtauchen bis auf 25 Meter. Wasserproben nehmen. Zurück an die Oberfläche. Die meiste Zeit übernahm ein automatischer Probennahme-Roboter diese Aufgabe. Aber stichprobenartig zogen sie die Muster manuell um die Ergebnisse der automatischen Probenahme zu verifizieren. Er hatte das im letzten Monat sicher ein dutzend Mal gemacht und mittlerweile hatte er ein Gefühl für die Strömung hier unten entwickelt. Eine Art instinktives Gespür für seine Umgebung. Daniel zog ihn gerne damit auf, dass irgendwo in seiner Ahnenlinie Seehundgene zu finden sein mussten. Angeheiratet vermutlich. Irgendwo aus dem Norden. Er persönlich schrieb es eher der Erfahrung zu. Wenn man seinen Eltern glauben konnte, dann war er geschwommen noch bevor er gelaufen war.
Je tiefer er sank umso deutlicher spürte er den Wasserdruck. Was für viele Taucher eine unvermeidliche Unannehmlichkeit war kam ihm wie eine sanfte Umarmung vor. Als würde der Ozean ihn in seinen Tiefen willkommen heißen. Er schloss für einen Moment die Augen und ließ sich in der Strömung treiben. Erlaubte sich einen Augenblick inne zu halten und einfach zu sein. Und dann… begann er plötzlich zu fallen.
Erschrocken riss er die Augen auf als das Gefühl des Drucks um ihn herum von einem auf den anderen Moment verschwand. Licht durchflutete das endlose Blau. Breitete sich wie goldenes Blut in glühenden Schwaden um ihn herum aus. Trieb hinauf zur Oberfläche und malte Sterne in das rastlose Firmament über ihm. Panik brandete in ihm hoch und versank einen Herzschlag später in ehrfurchtsvollem Staunen. All die Dinge die er bis eben noch als vagen Instinkt zu erahnen vermochte nahmen plötzlich fast greifbare Gestalt an. Er konnte die Strömungsrichtung des Wassers sehen. Wie es in engen Windungen seinen Körper umspülte. Wie es sich in langen eleganten Schwüngen mit dem auf und ab der Wellen bewegte. Eine unirdische Szenerie die ihn den Atem anhalten ließ. Er hatte keine Erklärung dafür. Und jetzt und hier brauchte er auch keine. Zu sehr faszinierte ihn das was er sah. Es ließ ihn für einen Moment an das Unmögliche glauben.
Unter ihm kam Bewegung in das Lichterspiel. Etwas teilte das Wasser und wühlte die leuchtenden Bahnen dabei auf. Ließ sie zerfasern, sich verschlingen, abreißen und sich neu verbinden. Ein vager Umriss der beim näherkommen Form bekam. Es war ein Wal. Alles an der Silhouette war ihm bis ins Detail vertraut. Der Bogen des langen Rückens. Die Fluke, deren auf und ab das Tier langsam und kraftvoll nach vorne trieb. Und doch hätte die Kreatur nicht befremdlicher sein können. Sie war wie ein geisterhafter Scherenschnitt im Lichtermeer. Umzeichnet von einem unirdischen grünen Glühen wirkte sie körperlos. Ätherisch. Verharrte wie Leuchtfeuer und Schattenriss zugleich einen Moment unter ihm in der Tiefe, bevor sie sich mit einem einzigen Flukenschlag auf ihn zu… nein… durch ihn durch bewegte. Er spürte keinen Widerstand als der Körper durch ihn hindurchglitt. Nur ein vages Gefühl von Kontakt und ein frostiger Hauch der ihm selbst in der Kälte des Eismeers eine Gänsehaut verursachte. Er streckte die Hand aus um das Tier zu berühren. Als könne er sich so seiner Existenz versichern. Doch seine Finger griffen ins Leere. Ins Leere und in die Dunkelheit. So unmittelbar wie der Augenblick gekommen war, verging er auch. Das Gefühl des Wasserdrucks um ihn herum kehrte zurück und das Meer versank erneut in tiefblaue Schwärze. Ließ Liam in einem Schockzustand zurück in dem er orientierungslos und überwältigt durch die Schwerelosigkeit trieb. Unfähig zu erfassen was er gesehen hatte. Unfähig es zu glauben und zugleich unfähig es zu leugnen.
Es war die Signalleine der ihn zurück in die Wirklichkeit holte. Ein Rucken an seinem Gürtel das in seiner Banalität den letzten Rest des Momentes entzauberte. Hastig griff er nach dem Seil und zog zweimal kräftig daran. Das Zeichen für Daniel das wie geplant verlief. Auch wenn nichts aber auch wirklich Garnichts tatsächlich in Ordnung war.

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