Die Stimme im Beton

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Mateo
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Registriert: So 31. Aug 2025, 14:42

Die Stimme im Beton

Beitrag von Mateo »

Mateo saß auf der obersten Stufe einer verlassenen Fußgängerbrücke, die über die Bahngleise führte. Es war spät, die Stadt war müde, aber nicht ganz still. Unter ihm ratterte gelegentlich ein Güterzug vorbei, als würde er Erinnerungen transportieren, die niemand mehr wollte.

Er hatte sich diesen Ort ausgesucht, weil er hoch genug war, um die Lichter der Stadt zu sehen, aber abgelegen genug, um nicht gesehen zu werden. Neben ihm lag ein kleines Notizbuch, das er selten benutzte. Heute hatte er es aufgeschlagen.

Er schrieb keine Gedichte. Keine Gebete. Nur Fragmente.
„Was bleibt, wenn man niemanden kennt?“
„Wie klingt Heimat, wenn sie nicht mehr spricht?“
„Ist Gott auch da, wenn man ihn nicht ruft?“

Ein Windstoß strich über die Brücke, ließ die Seiten flattern. Mateo hielt sie fest, sah auf die Gleise. Ein Mann ging unten entlang, langsam, mit einem Einkaufswagen voller Metallteile. Kein Zuhause, aber ein Ziel.

Mateo beobachtete ihn, nicht aus Mitleid, sondern aus Respekt.
*Die Geister meiner Ahnen würden ihn segnen*, dachte er. *Weil er geht. Weil er trägt.*

Er griff in seine Jackentasche, holte ein kleines Amulett hervor – geschnitzt aus Holz, das seine Großmutter ihm einst gegeben hatte. Ein Symbol, das keiner hier verstand. Aber das war egal. Es war nicht für sie.

Er hielt es kurz gegen das Licht der Straßenlaterne.
„Ich bin da,“ sagte er leise. Nicht zu jemandem. Nur in den Raum hinein.

Dann schloss er das Notizbuch, stand auf, und ging.
Nicht schnell.
Aber mit Richtung.

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