Wo die Stille Wurzeln schlägt (H.-H., Mateo)

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Mateo
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Wo die Stille Wurzeln schlägt (H.-H., Mateo)

Beitrag von Mateo »

Die Luft war klar, fast scharf, und roch nach feuchter Erde und verblassendem Laub. Mateo zog die Jacke enger um sich, während seine Schritte über den Kiesweg hallten. Die Bäume standen wie stille Wächter, ihre Äste schwer von goldenen und roten Blättern, die langsam zu Boden tanzten.

Er mochte diesen Ort. Nicht aus Trauer, sondern wegen der Ruhe. Der Friedhof war wie ein stiller Chor, der nicht sang, sondern summte. Ein Ort, an dem die Welt innehielt.

Mateo setzte sich auf eine steinerne Bank, ließ den Blick über die Grabsteine schweifen. Die Namen waren ihm fremd und doch fühlte er sich nicht alleine. Alle hatten sie etwas hinterlassen. Etwas das blieb, wenn alles geht.

Er spürte die Resonanz – nicht laut, nicht greifbar, aber da. Wie ein Echo, das durch die Seele ging.

Dann, irgendwann, hörte er Stimmen. Gedämpft, aber klar. Eine Trauergesellschaft, vermutete er.

Und da – eine Stimme, die ihm vertraut war.

Mateo richtete sich auf, runzelte die Stirn.
What the... Zufall. War das… Skolem?

Er stand langsam auf, ging ein paar Schritte in Richtung der Stimmen. Neugierig, ob es wirklich Skolem war.

Sein Blick suchte zwischen den dunklen Mänteln, den gesenkten Köpfen.

Was machte Skolem hier?

Mateo näherte sich, vorsichtig, respektvoll.
Vielleicht war es Zufall. Vielleicht war es etwas anderes. Laut Skolem gab es ja keine Zufälle, also mußte es etwas anderes sein.

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H.-H. Skolem
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Re: Wo die Stille Wurzeln schlägt (H.-H., Mateo)

Beitrag von H.-H. Skolem »

Je näher Mateo an die kleine Gesellschaft - es mögen grob geschätzt kaum zwanzig Personen sein - herantritt, desto deutlicher erkennt er: es ist tatsächlich Skolems Stimme, die er vernommen hat. Sie haben sich um ein offenes Grab versammelt und die Trauergemeinde steht Skolem gegenüber, hört ihm neben gelegentlichen Schluchzen aufmerksam zu. Er selbst ist zwar genau so altertümlich gekleidet, wie üblich, doch hier und heute inklusive seines Bowlers ganz in schwarz gehalten.

Skolem spricht ruhig, unaufgeregt, langsam, mit warmer Stimme und schaut dabei nahezu die gesamte Zeit in die Gesichter der Trauernden. Zwar hat er ein Manuskript in der Hand, doch benötigt er es kaum. Dafür wandert sein Blick von einer Person zur anderen, als würde er jeden einzelnen der dort versammelten persönlich ansprechen.

"Der Philosoph Sören Kierkegaard beginnt seine Rede „An einem Grabe“ mit den Worten „So ist es denn vorüber“ und macht damit direkt den Ernst der Lage klar. Alles, was bisher relevant war, alles, was das Leben ausgemacht hat, das ist jetzt vorbei. Und mehr noch: jegliche Kommunikation, sowohl mit den Mitmenschen als auch der Umwelt, erlischt, denn „der Tote ist ein stiller Mann“. Er ist von nun an getrennt von Ihnen, seinen Hinterbliebenen, denn er kann nicht einmal auf Ihre lautesten Rufe und heftigsten Wehklagen antworten.
Wenn überhaupt, dann sind Sie -die Hinterbliebenen- es, die sich noch an Matthew erinnern, ihn auf der Totenfeier noch einmal hochleben lassen dürfen, miteinander Anekdoten über ihn austauschen können, oder sich möglicherweise auch nur schlicht über ein etwaiges Erbe freuen. Matthew selbst jedoch hat dazu nichts mehr beizutragen, „denn im Grabe ist da kein Gedenken“, so Kierkegaard. Früher oder später jedoch" - dabei blickt Skolem vor allem die Witwe des Verstorbenen an - "nach all den oberflächlichen Beileidsbekundungen entfernter Bekannter, nachdem die Zeit auch bei den engeren Verwandten „das tägliche Vermissen mit dem Trost der Erinnerung eingeübt hat, hat das Leben der Umgebung kein Mittel mehr, sein Gedächtnis zu bewahren“ und so gerät der Verstorbene allmählich Stück für Stück in die Vergessenheit.
Das ist nichts Verwerfliches, das genaue Gegenteil ist der Fall. Denn nur, wenn Sie die Trauer über den Verlust Ihres geliebten Matthews überwinden, können Sie wieder ganz im hier und jetzt sein und so voranschreiten. Glücklicherweise sind Sie auf diesem Weg nicht allein, denn Sie haben einander. Sie können sich gegenseitig eine Stütze sein und Halt geben. Genau dazu möchte ich Sie nun ermutigen: reichen Sie einander die Hände und treten Sie mit mir gemeinsam um das Grab vor uns. Greifen Sie dabei mit Ihrer rechten Hand die linke Ihres rechten Nachbarn von oben und empfangen Sie mit Ihrer linken Hand die rechte Hand des Menschen zu Ihrer Linken von unten. Denn so sind wir in einem geschlossenen Kreis verbunden."

Daraufhin verteilen sich die Anwesenden um das Grab herum und reichen sich wie von Skolem gebeten die Hände. Auch er steht mit im Kreis und Mateo ist sich gewiss: hier geschieht gerade etwas Magisches.

Skolem fährt nun fort: "Schließen Sie die Augen und atmen Sie mit mir ruhig und tief
ein ... und aus
ein ... und aus
ein ... und aus
...

Die Gruppe gelangt so in einen gemeinsamen Atemrhythmus, stimmt sich aufeinander ein. Als dies erreicht ist, spricht Skolem weiter, immer noch ruhig und bedächtig, doch scheint nun etwas in seiner Stimme mitzuschwingen, das vorher noch nicht da war. Für die Trauergemeinde kaum wahrnehmbar, doch Mateo kann die Magie, die nun in dieser Runde fließt, deutlich fühlen.

"Wir sind eine Kraft. Wir sind ein Wille. Wir sind ein Wollen. Wir sind eine Harmonie. So stehen wir im saturnischen Licht - jetzt und immerdar."

Daraufhin beginnt Skolem leise zu intonieren:
"Coniunctis manibus spiritum Saturni imploramus!
Gratias agamus Saturno!
Nos adiuvabit veritatem cocnoscere et superare perfidiam
inimicorum nostrorum!"

"Lösen Sie nun mit mir unsere Kette und schauen Sie sich genau um. Blicken Sie in die Augen der Menschen, die mit Ihnen gemeinsam hier versammelt sind. Erkennen Sie Ihre Mitmenschen um sich herum - nur SIE können einander jetzt Kraft geben."

Skolem zieht sich ein paar Schritte zurück und murmelt irgendetwas, doch dies ist nicht zu vernehmen. Danach spricht er offen und klar, dochnoch immer ruhig und bedacht:
"Nehmen Sie sich nun gerne jeder für sich etwas Zeit, um Matthew ganz persönlich zu verabschieden."

Skolem tritt an der Tauergemeinde vorbei und dann erst fällt sein Blick auf Mateo. Erst wirkt er etwas verwundert, doch schnell breitet sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen aus und er schreitet ihm entgegen.

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Mateo
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Re: Wo die Stille Wurzeln schlägt (H.-H., Mateo)

Beitrag von Mateo »

Mateo beobachtete die Szene, die sich vor ihm auftat, und lauschte. Die Worte, die Skolem sprach, waren bestimmt, aber nicht hart. Sie trugen Trost in sich, zeigten einen Weg zur Trauer und zum Abschied auf, ohne zu beschönigen. Mateo war beeindruckt. Nicht nur von der Rede, sondern von der Haltung, der Würde, mit der Skolem sprach.

Und dann spürte er es.
Ein Ziehen in der Brust, ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen.
Seine Spidy Senses meldeten sich.

Was eben noch wie ein Ritual der Worte wirkte, wurde zur Gewissheit: Skolem wirkte Magick.

Als er die Trauergemeinde aufforderte, gemeinsam zu atmen, stimmte Mateo unbewusst in den Chor der Atemzüge ein.
Ein … und aus.
Ein … und aus.
Ein … und aus.

Die Magie wurde stärker.
Mateo hörte die Invocatio, versuchte einzelne Wörter zu greifen.
„Spiritum Saturni imploramus…“
Er beschwört den Geist Saturns.
Dankt ihm.
Wahrheit erkennen?

Dann flachte die Magick wieder langsam ab. Mateo merkte, dass er den Atem angehalten hatte, als die Invokation begann.
Er holte tief Luft. Spürte, wie sich etwas in ihm beruhigte.

Er blieb stehen, wo er war.
Wollte die Trauergemeinde nicht stören.
Aber als Skolem sich ihm näherte, lächelte Mateo.

„Guten Tag, Mr. Skolem.“
Seine Stimme war ruhig und freundlich.
„Ich hätte nicht erwartet, Sie hier zu sehen. Sollte Sie nicht bei den Trauernden bleiben – und den Verstorbenen unter die Erde bringen?“

Ein Hauch von Humor lag in seinem Ton, aber auch Respekt.
Denn was er eben gesehen hatte, war mehr als eine Zeremonie.

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H.-H. Skolem
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Re: Wo die Stille Wurzeln schlägt (H.-H., Mateo)

Beitrag von H.-H. Skolem »

Nachdem Skolem Mateo entdeckt hatte, scheinen sich dessen Schritte sogar ein wenig zu beschleunigen. So tritt er direkt auf ihn zu; selbstverständlich nicht, ohne ihm ein freundliches Lächeln zu schenken.

"Mateo," spricht er freudig, "sei mir gegrüßt. Wie ist es dir ergangen seit unserem letzten Treffen? Nun ja - wo sollte ich sonst sein, wenn nicht mitten im Geschehen meines Berufs? An dieser Stelle jedoch gebe ich den Teilnehmern der Trauerfeier gerne einige Minuten, um sich ein letztes Mal persönlich von ihrem Mann, Vater, Freund, Kollegen, Nachbarn - in welchem Verhältnis auch immer sie zueinander gestanden haben mochten - zu verabschieden. Doch was führt dich an diesen Ort?"

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Mateo
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Re: Wo die Stille Wurzeln schlägt (H.-H., Mateo)

Beitrag von Mateo »

Mateo lächelte zurück, warm und ein wenig überrascht von der Freude in Skolems Stimme. Irgendwie mochte er ihn. Schrullig war er, ja – aber da war auch etwas zutiefst Freundliches, etwas, das sich nicht aufdrängte, sondern einfach da war.

„Das macht Sinn, ihnen nochmal Zeit zu geben. Die Rede war wirklich beeindruckend. Ruhig, klar, und trotzdem voller Trost.“

Er ließ den Blick über die Gräber schweifen, über die Bäume, die sich im Wind bewegten wie in einem langsamen Tanz.

„Ich bin ab und an hier. Der Friedhof ist für mich wie eine Oase inmitten der Stadt. Ruhig, grün, friedlich. Und irgendwie… hat dieser Ort eine Resonanz, die mir etwas Frieden gibt.“

Mateo sah Skolem wieder an, seine Stimme wurde etwas leiser, aber nicht unsicher.
„Darf ich fragen… was das für ein Ritual war? Ich habe gespürt, dass da mehr war als Worte. Die Atemzüge, die Invocatio… das war Magick, oder?“

Er sprach es aus mit einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht. Magick war für ihn immer noch faszinierend und etwas fernes, fast unerreichbares. So wie Skolem es machte, hatter er es in dieser Form noch nie erlebt.

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H.-H. Skolem
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Re: Wo die Stille Wurzeln schlägt (H.-H., Mateo)

Beitrag von H.-H. Skolem »

Skolem lässt seinen Blick über den Friedhof schweifen. Er gleitet von gerade erst ausgehobenen Gräbern über die Ruhestätten der erst kürzlich bestatteten Verstorbenen, auf deren Gräbern noch Kränze und teilweise Unmengen von Blumen liegen. Dann sind da die längst verwitterten Grabsteine, deren Inschriften kaum noch zu entziffern sind. Den Großteil des Areals machen jedoch die wohl gepflegten Gräber aus. Eben jene, deren Gäste erst seit einigen Jahren dort ruhen und die regelmäßig von ihren Angehörigen besucht werden. All dies harmonisch eingebettet in die Natur darum herum.

"Ich kann dich gut verstehen", sagt Skolem mit ruhiger und entspannter Stimme, "von außen betrachtet haben Friedhöfe - nun ja, der Name kommt ja auch nicht von ungefähr - etwas Friedvolles. Meist ist dem auch tatsächlich so." Dann wird er noch etwas ruhiger, seine Worte noch gezielter, überlegter: "Hin und wieder aber geschieht es, dass ein Verstorbener nicht in der Lage ist, weiterzuziehen. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Bei dem einen ist es eine seit langem unerledigte Aufgabe, bei dem anderen seine kaum zu ermessende Liebe zu einem noch lebenden Menschen. Wieder andere sind getrieben von dem Wunsch nach Vergeltung, weil ihnen möglicherweise ein großes Unrecht in ihrem Leben angetan wurde, oder sie gar gewaltsam aus dieser Welt scheiden mussten."

Skolem wurde während seiner Ausführungen immer ruhiger, bedächtiger. "Genau dafür sind wir Euthanatoi da - zumindest ist dies mein Verständnis vom Daseinszweck unseres Vereins: den Trauernden und Hinterbliebenen beistehen und Kraft geben. Den Verzweifelten und Verlorenen Toten helfen, ihren Weg zu beschreiten. Und manchmal leider auch den völlig Verirrten Einhalt zu gebieten, sodass sie keinen Schaden anrichten."

Er atmet tief durch, doch sein Blick ruht weiterhin auf Mateo. "Genau darum ging es eben in dem kleinen Ritual: Die Hinterbliebenen daran zu erinnern, dass niemand von ihnen allein mit dem Schmerz, den der Verlust eines geliebten Menschen verursacht, fertig werden muss. Gemeinsam ist man immer stärker. Was die Saturn-Formel betrifft, müsste ich leider deutlich länger ausholen - aber gerne können wir uns da einmal bei einer guten Flasche Whiskey" - dabei grinst er Mateo an - "oder auch etwas weniger herbem austauschen."

Skolem dreht sich kurz um und schaut nach der Trauergemeinde. "Ich denke, sie sind nun soweit. Wenn du mich noch für zwanzig bis dreißig Minuten entschuldigen magst, komme ich danach gerne wieder zurück". Und mit diesen Worten begibt er sich erst einmal zurück zum Grab.

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