Neulinge unter sich [Hifumi, Liam]

[Liam Carpenter]

Liam stellte die leere Kaffeetasse auf dem Schreibtisch ab und griff nach seinem Handy. Wählte die Nummer die Elena Black ihm gegeben hatte und wartete darauf, dass am anderen Ende jemand abnahm. Eine weitere Perspektive. Eine weitere Gelegenheit etwas über den Ablauf jenes verhängnisvollen Treffens zu erfahren bei dem John gestorben war. Mehr Puzzleteile die er sammeln und hoffentlich irgendwann zu einem Bild zusammenfügen konnte.

Als es in der Leitung klickte ergriff er das Wort.

"Guten Tag. Spreche ich mit Hifumi Takahashi?"

[Hifumi]

Als nach einigen Sekunden abgehoben wird, sind am anderen Ende Verkehrslärm und das Dröhnen von Flugzeugen zu hören - ständige Begleitmusik, die so schnell auch nicht abreißen wird.

"Ja, Sie sprechen mit Hifumi Takahashi, Leiterin der Young Women's Division von Nichiren Shoshu in Seattle. Und mit wem habe ich die Ehre?"

Der japanische Akzent schimmert durch, aber ihre Aussprache ist sehr viel besser als bei der Durchschnittsjapanerin. Ihre Stimme ist warm und wäre angenehm, wäre da nicht der ständige Krach im Hintergrund.

[Liam Carpenter]

Ihre Stimme war im ersten Moment kaum zu verstehen. Ging fast im Lärm unter bis die Geräuschfilter des Telefons sie etwas klarer hervorhoben. Sie klang freundlich und sprach ein hervorragendes Englisch, auch wenn man einen Akzent in ihren Worten hören konnte.

„Mein Name ist Liam Carpenter. Ich habe ihre Nummer von Elena Black bekommen. Ich würde mit ihnen gerne über das Certamen und Johns Tod sprechen. Sie sagte mir sie wären Augenzeugin der Ereignisse gewesen. Vielleicht können wir uns irgendwo treffen?“

Er fiel einfach mit der Tür ins Haus.

[Hifumi]

Ein hörbares "Oh" entschlüpft Hifumis Lippen bei der Erwähnung von Elena Black. Danach schweigt sie einen Moment lang, als ob sie die Bombe erst verdauen müsste.

"Ich bin gerade in Tukwila, aber ich werde heute nachmittag um 15 Uhr in Seattle zu tun haben. In der Gegend von Bellevue, um genau zu sein. Gegen 18 Uhr sollte ich von dort wieder weg kommen, falls es Ihnen später besser passt, Mister Carpenter. Nana's Green Tea wäre ein guter neutraler Ort und nicht sehr weit weg von meinem... Einsatzort. Ich wäre leicht in der Menge zu finden - kennen sie die Schöne und das Biest, mit der Disneypinzessin Belle im gelben Ballkleid? Das wäre ich."

[Liam Carpenter]

Er wusste nicht genau wie er ihre Reaktion deuten sollte. Aber sie legte nicht auf und willigte ein sich mit ihm zu treffen.
„Heute Nachmittag würde mir gut passen.“
Dann konnte er nach der Vorlesung noch ein paar Dinge für die Uni erledigen. Er steckte immer noch bis zum Hals in der Reise-Nachbereitung.
„Den Film habe ich als Kind gesehen. Darunter kann ich mir etwas vorstellen.“, schmunzelte er. Die kuriose Beschreibung erweckte vor seinem geistigen Auge sofort ein Bild.
„Vielen Dank, dass sie sich mit mir treffen.“
Das Nana`s Green Tea sagte ihm zwar nichts, aber so schwer konnte das ja nicht zu finden sein.

[Hifumi]

"Gut, dann treffen wir uns um 14 Uhr im Nana's. Bis dann, Mister Carpenter."

Hifumis Hand ist etwas schwitzig, als sie auflegt. Da war sie wieder, diese verborgene Welt mit ihren undurchsichtigen Verwicklungen. Welche Rolle mochte dieser Mister Carpenter darin spielen?

* * *


Bellevue, ein östlicher Satellit von Seattle, hat eines der höchsten Medianeinkommen auf dieser Seite von Silicone Valley, und wurde in den letzten Jahren immer wieder unter den fünf lebenswertesten Städten der USA gelistet. Böse Zungen würden sagen, die Gegend ist reichlich schnöselig.
Nana's Green Tea fügt sich wunderbar in dieses Bild ein. Die Tee-Lattes und japanisierten Süßgebäcke, die hier angeboten werden, sind hochwertig und hochgradig verlockend - und die Preise exorbitant. Wenigstens bekommt man hier auch einen einfachen grünen oder schwarzen Tee für $4, oder auch wahlweise einen simplen Kaffee (der wohl auch nur auf dem Menü steht weil genug ignorante Anhängsel gibt die ausdrücklich danach gefragt haben).

Einige Minuten vor der Treffenszeit begibt sich eine ungewöhnlich gekleidete zierliche Japanerin in diese Mischung aus Konditorei und japanischem Teehaus. Sie trägt ein gelbes "Ballkleid" aus billigem glänzenden Faschingskostümstoff, von der Art wie man es in Halloween-Pop-Up-Stores oder bei Alixexpress findet, zusammen mit langen gelben Handschuhen. Der tiefe Ausschnitt betont unvorteilhaft ihre geringe Oberweite, und auch die buddhistische Gebetskette um ihren Hals mit den pinken Gebetsperlen wirkt mehr als nur ein wenig fehl am Platz.
Sie bewegt sich auffällig hin und her, so als ob sie gesehen werden wolle - und ist zugleich ersichtlich unwohl dabei, sich in diesem Aufzug an einem so öffentlichen Ort zu zeigen.

[Liam Carpenter]

Liam nahm die Stadtbahn rüber nach Bellevue und ließ sich dann von google maps den Weg zum Nana`s zeigen zu lassen. Er kam selten in diesen Stadtteil. Hier war alles unverhältnismäßig teuer und sein Studentenbudget war ohnehin nicht besonders üppig. Überteuerten Kaffee konnte er auch in der Mensa trinken ohne dafür auch noch Geld für eine Bahnfahrt auszugeben.
Pünktlich betrat er das Teehaus und sah sich nach Jemandem um der Hifumi Takahashi sein konnte. Es war nicht schwer sie unter den anderen Besuchern auszumachen, denn tatsächlich trug sie ein auffälliges, kostümhaftes gelbes Kleid, in dem sie zwischen den Gästen sichtlich herausstach.
„ Hifumi Takahashi, nehme ich an?“, sprach er sie an. Ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht.
„Ich bin Liam Carpenter. Wir haben heute morgen telefoniert.“

[Hifumi]

Hifumi dreht sich nach der ansprechenden Person um und starrt diese erst einmal einen kurzen Moment lang an. Der Anblick eines Indianers ist ungewöhnlich für sie, und nicht das was sie bei diesem Allerweltsnamen erwartet hätte.

Bevor es irgendwie beklemmend oder unangenehm wird, blinzelt sie aber und lächelt. "Ja, ich bin Hifumi Takahashi. Sie können mich Miss Takahashi nennen, oder Hifumi. Oder Belle - das wäre mir sogar am liebsten, das hilft mir mich auf meinen Auftritt einzustimmen." Sie macht eine einladende Geste in Richtung des Tresens. "Ich hoffe es stört Sie nicht wenn ich einen Stehplatz bevorzuge, dieses Kleid ist so unpraktisch zum darauf sitzen."

Sie studiert das Menü an der Wand, wohl zum ersten Mal, und zieht angesichts der Preise die Augenbrauen hoch.

"Und, uhm, ich hoffe es stört sie nicht, mich einzuladen. Ich werde leider erst nach meinem heutigen Auftritt bezahlt."

[Liam Carpenter]

„Arbeiten sie als Animateurin?“, erkundigte er sich. Es klang nicht verurteilend, eher interessiert. So wie sie gekleidet war, machte sie vielleicht Werbung für ein Geschäft oder unterhielt Kinder bei Geburtstagsfeiern. Es war nicht das was er von einer Leiterin der Young Women's Division von Nichiren Shoshu in Seattle, erwartet hatte. Aber letztendlich hatte er auch überhaupt keine Ahnung was eine Leiterin der Young Women's Division von Nichiren Shoshu in Seattle überhaupt tat.
Er schüttelte den Kopf und folgte ihr Richtung Tresen. „Kein Problem.“
Studierte ebenfalls die Menütafel und seufzte innerlich als er die Preise sah. Wenn das so weiterging musste er bald einen Kredit aufnehmen. Für ihn stand den Rest des Monats jedenfalls Reis mit Ketchup auf dem Speiseplan.

Er wartete bis sie bestellt hatte und entschied sich selbst schließlich für einen Matcha-Latte. Der Kaffee war zwar auch verlockend, aber irgendwie kam ihm das hier frevelhaft vor.
„Ich möchte sie auch gar nicht über Gebühr aufhalten.“, kam er schließlich auf sein Anliegen zu sprechen.
„Ihre Mentorin sagte mir sie waren Augenzeuge des Certamens und von Johns Tod. Ich würde gerne hören was sich aus ihrer Perspektive dort abgespielt hat.“

[Hifumi]

Hifumi verhält sich bescheiden und beschränkt sich auf einen schlichten schwarzen Tee, eines der günstigsten Getränke auf der Karte. Sie ist hübsch, aber wohl nicht der Typ Frau der sich auf Kosten eines Mannes das beste und teuerste gönnt, was das Menü hergibt. Oder vielleicht will sie einfach keine Hoffnungen auf intimere Gegenleistungen aufkeimen lassen.

"Etwas so ähnliches. Ich arbeite nebenher als Partyprinzessin. Ich trete bei Feiern auf, singe die Disneylieder mit den Kindern und lasse Bilder mit mir machen. Solche Sachen halt.
Zum Glück haben meine heutigen Kundin nicht nach einer Pocahontas gefragt, ich glaube dieses Treffen wäre sonst etwas... uhm... peinlich geworden." Bei dieser Anmerkung lacht sie ein wenig nervös und versucht es rasch zu überspielen. "Und wie ist es mit Ihnen, was den Broterwerb angeht? Wie eine Kollegin unter den Partyprinzessinnen wirken Sie nicht gerade."

Als die Sprache auf das schicksalshafte Certamen zu sprechen kommt, wird Hifumis ganzes Auftreten merklich ernster. Sie fummelt ein wenig nervös an ihrer Gebetskette.

"Schlimme Sache war das, ganz schlimme Sache. Zu den Hintergründen hat Elena ihnen sicher schon alles erzählt. Gehören Sie zufällig auch zu den Duwamish, dem gleichen Stamm wie John?"

Sie macht eine kurze Pause, um Liam Gelegenheit zum antworten zu geben.

"Das Certamen selbst war von Yubilée verloren worden, aber John starb noch bevor er Nutzen aus seinem Sieg ziehen konnte. Noch währen der zeremoniellen Verbeugung nach dem Duell presste die Hand auf seine Herzgegend und sackte tot zusammen. Verena von den Verbena, die Schiedrichterin über das Certamen war, und eine herbeigeeilte junge Duwamish stürzten sofort herbei um ihm zu helfen, aber beider Liebesmühe war vergebens. Von dem was unmittelbar danach geschah weiß ich nicht viel, denn die junge Duwamish verwandelte sich in eine tobsüchtige wölfische Hengeyokai. Da tat ich das einzig vernünftige, was man tun kann - möglichst schnell möglichst weit weg entkommen und einfach irgendwo anders sein.
Was eben eine Schöne so tun kann, wenn sie mit einem Biest konfrontiert wird."