
Heiliger Jesus Christus auf Rollerskates!
Dies war der erste Gedanke, der Alan durch den Kopf schoss.
Wieso ausgerechnet Jesus Christus? - war der zweite Gedanke.
Alan war nicht unbedingt der gläubigste Mensch auf dem Planeten. Er vertrat da eher einen streng agnostischen Ansatz: Was er sehen konnte, war real. Was er nicht sehen konnte - nun, es KÖNNTE real sein. Aber das wurde es erst in dem Moment, in dem es sich zeigte; in dem Alan es sah - bis dahin war es nur Fiktion. Das, was Alan just in diesem Moment anstarrte konnte dieser Logik folgend nur real sein - auch wenn ihm noch nicht klar war, warum.
Vorsichtig ließ er die Finger seiner linken Hand über die Leinwand streichen, die auf der Staffelei stand. Die Farbe war noch feucht und färbte Alans Fingerkuppen türkis. Erschrocken zog er die Hand zurück; betrachtete sie. Verrieb die Farbe zwischen den Fingern und bemerkte nun auch die anderen Farben an seinen Händen. Farbreste, die dort gar nicht hätten sein sollen. Farbreste, die es ihm kalt den Rücken herablaufen ließen. Seine Nackenhaare hatten sich aufgestellt - ein unangenehmes Gefühl lag in der Luft. Ein Gefühl, dass er nicht greifen konnte. Angst? Überraschung? Vielleicht Verwunderung? Also auf die unangenehme Art. So wie wenn die eigene Freundin wie aus dem Nichts mit "wir müssen reden" ankommt. So, wie es seine Ex getan hatte.
Ja, je länger Alan darüber nachdachte, desto passender war dieser Vergleich - und doch dachte er überhaupt nur deshalb darüber nach, um sich nicht mit dem beschäftigen zu müssen, was seine Augen dort vor ihm sehen konnten.
Dieses Bild ...
Alan blinzelte. Verspürte den Drang, sich die Augen zu reiben - sah aber aufgrund der frischen Tinte an seinen Knöcheln davon ab.
"Spinne ich?" murmelte er sich in den Bart. "Hat mich der Frühling gehascht oder bin ich einfach überarbeitet?" - 'der Frühling gehascht'. Eine Redewendung, die seine Grandma immer dann brachte, wenn sie an ihrem Verstand (oder ihrem Ehemann; manchmal sogar an beidem) zweifelte.
Er hatte das Bild nicht gemalt. Er hatte sich am Abend ausgezogen, seine Kleidung f̶e̶i̶n̶ ̶s̶ä̶u̶b̶e̶r̶l̶i̶c̶h̶ auf den Stuhl seines Dachgeschosszimmers geschmissen und sich ins Bett gelegt. Er erinnerte sich genau daran; auch, wie er den Schriftzug an der Wand über dem Bett noch etwas fokussiert hatte, der im Licht des durch das Dachfenster hereinfallenden Mondes schwach erleuchtet war: "Licorice Chamber".
Und jetzt? Jetzt stand er in Unterwäsche vor der Staffelei - mit Farbe an den Fingern und dem Corpus Delicti in der rechten Hand: dem Pinsel, den sein Grandpa ihm geschenkt hatte. Und auf der Staffelei stand ein Bild, das er nicht gemalt hatte. Oder ... doch? Die Fakten sprachen gegen ihn - aber wie konnte das sein? Schlafwandelei? Hatte er nun ein Alter erreicht, in dem man mit so wunderlichen Dinge wie schlafwandeln anfing?
"What the fuck!" kam es über Alans Lippen, als schließlich die Erkenntnis wie zähflüssiges Öl in seinen Verstand hinein tröpfelte: Er hatte das Bild gemalt. Das Bild war real und noch immer zweifelte er an seinem Gesundheitszustand: "Bin ich verrückt geworden? Ist der Wahnsinn, der meine Malerei prägt, vollends auf mich übergesprungen?"
Dieses Bild. Es war wichtig. Alan wusste nicht weshalb, aber er konnte es spüren. Er hatte schon oft das Gefühl gehabt, das seine Bilder wichtig waren. Für die Menschen, die sie betrachteten. Aber dieses Mal war es anders. Irgendwie so, als hätte er durch das Gemälde die absolute Erkenntnis erfahren; als hätte sich eine Tür geöffnet, deren Sog ihn unaufhaltsam in ihre Richtung zog und dabei den Nebel links und rechts des Weges verdrängte; das dumpfe Gefühl des Stumpfsinns auflöste, mit dem man tagtäglich durch das Leben schritt...

... als hätte dieses Bild ihn aus einem langen Schlaf erweckt.